wir, die kinder der mörder

Martin Jander, Rainer Maischein



Sicherlich ist es ein Allgemeinplatz zu sagen, dass die Mehrheit der Deutschen den rassistischen Vernichtungskrieg Deutschlands und die Vernichtung der europäischen Juden verdrängt hat. Seit dem Ende der 60er Jahre gibt es in der alten Bundesrepublik jedoch fast keine Institution und Organisation, die sich nicht den kritischen Nachfragen der Nachfahren der Mörder hätte stellen müssen. Eine Ausnahme allerdings bilden die Organisationen der ehemaligen deutschen Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, SPD, KPD). Sie, so ein weit verbreiteter Irrtum, seien als Organisationen mit der Masse ihrer Mitglieder und Sympathisanten den Opfern des Nationalsozialismus zuzurechnen. Auf keinen Fall könne ihnen Verantwortlichkeit zugemessen werden. Wie aber kommt es dann, daß wir in Jugendseminaren zur Geschichte der Gewerkschaften mit massiven Phänomenen der Ausblendung deutscher Geschichte konfrontiert wurden? (1)

In diesen Jugendseminaren zur Geschichte der Gewerkschaften seit 1945 am Bildungs- und Begegnungszentrum der ÖTV in Berlin und auch andernorts in den Gewerkschaften stellten wir eine auffällig hohe Bereitschaft zur Kritik an "den (amerikanischen) Besatzern" fest, noch im Nachhinein wurde der 8. Mai 1945 eher mit dem Wort "Zusammenbruch" und "Niederlage" gekennzeichnet, denn mit dem Begriff "Befreiung". Gleichzeitig wurde eine gewisse Distanz zur parlamentarischen Demokratie als "Besatzungsprodukt" und eine Nähe zum nicht näher definierten "Sozialismus" ausgesprochen.

Weit entfernt davon unseren Seminarteilnehmern bestimmte Begriffe zu verordnen, mussten wir uns damit auseinandersetzen, woher die hohe Bereitschaft kam, die Worte und Begriffe und damit Wertungen der elterlichen oder großelterlichen Charakterisierung des Kriegsendes zusammen mit Orientierungen zu verwenden, die vermutlich den elterlichen überhaupt nicht entsprachen. Kann man aber ernsthaft davon ausgehen, dass jugendliche Gewerkschaftsmitglieder, die in den 60er Jahren geboren wurden, teilhaben an der Verdrängung des Nationalsozialismus?

Bei den meisten unserer Seminarteilnehmer fanden wir eine Mischung verschiedener Formen von Geschichtsausblendung vor. Bei ihnen ließen nicht nur die Kenntnisse über die Geschichte der eigenen Eltern und Großeltern (übrigens im Unterschied zu den Kenntnissen über die allgemeinen Rahmenbedingungen des Nationalsozialismus) zu wünschen übrig, es war nicht nur eine Übernahme der elterlichen Wertungen des Kriegsendes zu erkennen, die Unkenntnis über die eigene biographische Herkunft war darüber hinaus gepaart mit einer Scheu zu fragen und nicht selten gekoppelt mit einer politischen Selbstverortung in der ideellen Tradition der kommunistischen (ganz selten der jüdischen) Opfer des Nationalsozialismus. Einer Diskussion um die Verantwortung deutscher Politik wurde ausgewichen. Viele der Seminarteilnehmer nahmen für sich zwar nicht die "Gnade der späten Geburt" in Anspruch, über das Bekenntnis zur antifaschistischen Tradition glaubten sie sich jedoch der Diskussion um Verantwortung und Schuld entledigt zu haben.(2) Trotz dieser Ausblendungen argumentierten die Seminarteilnehmer mit historischen Wertungen und hatten durchaus Bilder historischer Situationen. Um diese Geschichtsbilder verstehen zu können, mussten wir uns zunächst mit ihrer Entstehung in beiden deutschen Staaten beschäftigen.

Geschichtsbilder entstanden in beiden deutschen Staaten als Reaktion auf die erzwungene Befreiung vom Nationalsozialismus. Als die alliierten Armeen 1945 die deutsche Wehrmacht unter großen Opfern endlich zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen, Deutschland besetzt und damit das nationalsozialistische Regime zerbrochen hatten, war die Freude bei der Mehrheit unserer Eltern und Großeltern keineswegs groß. Erleichtert über das Ende der Bombardements war man wohl. Was aber würde nun folgen? Wie würde die Strafe für die ungeheuerlichen Verbrechen aussehen? Würde man am Ende so behandelt werden, wie man die Menschen der überfal-lenen Länder und vor allem die Juden behandelt hatte?

Auf der Seite der Alliierten, der überlebenden Opfer und in den befreiten Ländern dagegen war die Freude zunächst ungeteilt. Was aber sollte man mit uns Deutschen machen? Unsere Eltern und Großeltern hatten schließlich (in ihrer Mehrheit) am Sturz des Nationalsozialismus nicht selbst mitgewirkt, hatten die Gefängnisse und KZ's nicht selbst geöffnet und den von ihnen begonnenen rassistischen Vernichtungskrieg nur erzwungen beendet. Konnte es in Deutschland unter diesen Bedingungen überhaupt Demokratie geben? Überall auf der Welt fragte man sich, ob wir überhaupt eine zivilisierte Gesellschaft und ein demokratisches Regierungssystem aufbauen könnten.

In Deutschland selbst fragte man selten so. Beobachter, die wie etwa Hannah Arendt kurz zu Besuch waren oder wie andere ganz aus der Emigration zurückkehrten, hatten den Eindruck, daß hier eine geschäftige Gesellschaft existierte, die auf keinen Fall mit sich reden lassen wollte. Unangenehme Wahrheiten galten als "Meinungen" (3), denen man seine eigene Meinung entgegensetzte; die von den Alliierten eingeleitete Entnazifizierung wurde als undemokratische "Siegerjustiz" kritisiert. Offene Opposition aber gab es selten. Man arrangierte sich im Westen wie im Osten. Stattdessen begann - und dies hat besondere Konsequenzen für uns, ihre Nachfahren - die lange Geschichte der Verdrängung und Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen und die Verschiebung und Umkehrung der Verantwortung.

Angesichts der massiven Zerstörungen, die der Krieg auch in Deutschland zur Folge hatte, und der Teilung des Landes im Kalten Krieg, begannen sich unsere Eltern und Großeltern (in der Mehrheit) in die Rolle der eigentlichen Opfer des Krieges und der Verbrechen hineinzuphantasieren. "Hitler" - so die These, die man in fast allen Statements dieser Zeit wieder findet - "hat das größte Elend über das deutsche Volk gebracht". Gleichzeitig war die "Last der Schuld" (4) - so ein Begriff des englischen Historikers Evans - am Ende des Nationalsozialismus quer durch alle deutschen Gesellschaftsschichten so groß, dass sowohl die Historiker der beiden deutschen Staaten, als auch die öffentliche Meinung die politischen Parteien sowie die "öffentlichen Verbände" (5) an der Produktion entlastender Geschichtsbilder teilhatten.

In der Bundesrepublik Deutschland waren Historiker und öffentliche Meinung mit Ausnahmen zwar bereit, die versuchte endgültige Vernichtung der europäischen Juden einzugestehen, dies hatte aber auch - so Evans - die Funktion, von den Verbrechen außerhalb der Lager, im Krieg, in den besetzten Ländern etc. abzulenken. Die Wehrmacht galt und gilt in breiten Kreisen der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bis heute als Organisation mit "anständigen" Soldaten, die mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hatten. Dieses Geschichtsbild hatte die klare Funktion, der Bundesrepublik nach dem Ende des NS eine gewisse Form nationaler Selbstachtung zu ermöglichen. Eine Beschäftigung mit der arbeitsteiligen Vernichtungspolitik von Wehrmacht, Industrie, Partei- und Sicherheitsapparat unterblieb.

Das SED-Regime und seine Historiker versuchten sich unterdessen der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch die Glorifizierung des kommunistischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten zu entziehen. Sie übertrieben maßlos und erweckten den Eindruck, dass die Verbrechen hauptsächlich von denen begangen worden waren, die heute im Westen lebten. Für den Triumph Hitlers und die Vernichtung der europäischen Juden wurde der westliche Kapitalismus verantwortlich gemacht, und folglich sah in der DDR auch niemand ein, wieso man den jüdischen Opfern des "Dritten Reiches" oder deren Nachkommen eine Wiedergutmachung leisten sollte. (6)

Die von den Historikern produzierten Bilder der Geschichte korrespondieren in weiten Bereichen mit den Annahmen, Beurteilungen und Haltungen zur Geschichte in der Gesellschaft, Wie schon erwähnt fanden wir Elemente aus beiden deutschen Formen der Geschichtsausblendung bei unseren Seminarteilnehmern vor. Konnte es aber sein, daß die Nachfahren der deutschen Arbeiterbewegung so sehr die allgemeinen Geschichtsausblendungen nachvollzogen wie der Rest der Gesellschaft? Gab es hier keine eigenen Traditionen mehr? Nicht wenigstens ein eigenständiges Milieu, das gerade wegen der Opfer und Verfolgungen im Nationalsozialismus auf Wahrheit gegenüber herrschenden Geschichtsausblendungen bestand?

Wir waren zunächst gar nicht in der Lage, das Muster des Verdrängungsmechanismus unserer Teilnehmer aufzunehmen, da ganz ähnliche Mechanismen schließlich bei uns selbst wirksam waren. Gerade die pubertäre Ablösung von den eigenen Eltern in der Zeit der Lehrlings- und Studentenbewegung, die gekoppelt war mit dem mehr oder weniger klaren Faschismusvorwurf, hatte zu einer - vergröbert gesprochen - heftigen Suche nach Ersatz-Eltern oder besser Ersatz-Identifikationen geführt. So arbeiteten wir ja selbst etwa in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zur Geschichte der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung vornehmlich mit Materialien und politischen Denkansätzen, die sich selbst verstanden als Versuche der kritischen "Rekonstruktion" der durch den Nationalsozialismus in Deutschland verschütteten Traditionen der Linken (7), die selber jedoch die Frage der Mitverantwortlichkeit der deutschen Arbeiterbewegung und der deutschen Linken für den Nationalsozialismus nicht oder nur am Rande thematisierten. (8)

Darüber hinaus dauerte es bei uns ziemlich lange, bis wir verstanden, dass wir ohne die Rekonstruktion der Täter- oder Zuschauerperspektive unserer Eltern, der Tätergeschichte also, den Nationalsozialismus und unsere eigene Biographie nicht verstehen (nicht im Sinne von rechtfertigen, sondern im Sinne von nachvollziehen) konnten. Das mit unseren Eltern und Großeltern ausgebliebene Gespräch mussten wir nachholen. Wir mussten einsehen lernen, dass sie Teil des Nationalsozialismus gewesen waren. Letztendlich können wir heute nicht mehr ganz genau erklären, an welchem Punkt wir glaubten, dies verstanden zu haben. Von unseren Eltern jedenfalls lernten wir es nicht. Das verschärfte die Situation. Es war eine Vielzahl von Büchern, aber vor allem auch Gespräche und persönlichen Begegnungen, die dafür verantwortlich waren. (9)

Im Nachhinein wirkt alles so logisch, passt alles so klar zusammen, dass es sich fast erübrigt, darüber zu sprechen. Wir sind die Kinder einer Gesellschaft, die die bis dahin geltenden zivilisatorischen Werte und Normen über Bord warf, die sich in eine gut geölte Vernichtungsmaschinerie verwandelte und die erst zwangsweise - nicht von innen heraus - wieder an die Mindeststandards zivilisierten menschlichen Verhaltens gewöhnt werden musste.(10) Die Mehrheit der Täter waren dabei keine sadistischen Zombies, sondern einfach gehorsame Soldaten, ehrgeizige Bürokraten und gedankenlose Opportunisten. So eben wie die Mehrheit unserer Eltern und Großeltern.

Die persönliche Anerkennung dieser bis in die eigene Familiengeschichte rekonstruierbaren Wahrheit ist nicht einfach auszuhalten, da sie natürlich ständig das Selbstbild beschädigt. Wer ist schon gern das Kind eines gedankenlosen Mörders oder eines strebsamen Schreibtischtäters? Wie viele der Züge unserer Vorfahren entdecken wir in uns? Aber ohne diese Voraussetzung persönlich und gesellschaftlich zu kennen und mit zu bedenken, wie soll man seine eigene Biographie, geschweige denn die Gesellschaft der beiden deutschen Staaten nach dem Ende des Nationalsozialismus verstehen (hier wieder im Sinne von nachvollziehen, nicht von rechtfertigen)? Die Täter tragen neben der Schuld an ihren Verbrechen die "zweite Schuld" (11) daran, dass sie über diese Verbrechen schwiegen und damit auch uns, ihre Kinder im Dunkeln über ihre Verbrechen gelassen haben. Und wir unterliegen wegen der Schwere der Verbrechen genau wie unsere Vorfahren der ständigen Versuchung der Selbstentschuldung, der Flucht vor uns selbst. (12)

Diese unsere "Dummheit", der schwierige Prozess die entschuldenden Geschichtsbilder oder persönlich die Selbsttäuschung hinter sich zu lassen, die die Täter in ihrem Wunsch nach Rechtfertigung und Schuldabwehr aufbauten, konstituiert schwierige Bedingungen für Bildungsarbeit auch mit den Generationen der Kinder der Täter. Bildungsarbeit sieht sich der Aufgabe gegenüber, Gespräche zwischen Generationen und zwischen Tätern und Opfern zu kompensieren, die es nicht gegeben hat. Dies ist unmöglich. Um ihren aufklärerischen Auftrag nicht zu verfehlen, kann politische Bildung aber zumindest die Analysen und Beiträge in den Vordergrund stellen, die die Täterperspektive und die Opferperspektive rekonstruieren und auch voneinander scheiden, die damit eine Konfrontation mit den Legenden unserer Vorväter ermöglichen. (13)

Für uns ganz persönlich war die Lektüre von Raul Hilbergs Buch ,"Die Vernichtung der europäischen Juden" genau deshalb ein "Aha-Erlebnis". Es ist dieses "Aha-Erlebnis" geworden wegen seiner besonderen Methode der empirischen Rekonstruktion der Tätergeschichten. (14) Unsere Vorfahren aus der Wehrmacht, der Reichsbahn, der Polizei, den öffentlichen Verwaltungen, den Kirchen, von der Werkbank und aus den Leitungen der Unternehmen, der nationalsozialistischen Partei und den vielen anderen Institutionen nationalsozialistischer Herrschaft verschwinden nicht im Nebel allgemeiner Faschismus-Definitionen. Der gesamte Umfang der Vernichtungsmaschinerie und ihrer Arbeitsteiligkeit wird sichtbar. Im Nationalsozialismus - so eine der wenigen Definitionen Hilbergs - hatten die Täter zum "ersten Mal in der Geschichte der westlichen Zivilisation (...) alle einer Tötungsoperation im Wege stehenden administrativen und moralischen Widerstände überwunden". (15)

Raul Hilbergs Arbeit hält den "Zivilisationsbruch" in der deutschen Gesellschaftsgeschichte fest, beschreibt ihn an der papierenen Hinterlassenschaft der Täter und konfrontiert uns - weil seine Darstellung sich stärker auf das "was" und "wie" als auf das "warum" der Vernichtung konzentriert - mit dem, was unsere Vorfahren zur Vernichtung beitrugen. Hilbergs Konzentration auf den bürokratisch und arbeitsteilig organisierten und industriell durchgeführten Mord konfrontiert uns, die Kinder der Mörder, mit der Totalität der Vernichtung. Seine Darstellung lässt keine Zweifel daran, dass es keine Gesellschaftsschicht bzw. gesellschaftliche Institution gab, die nicht in den Vernichtungsprozess arbeitsteilig eingebunden war. Voraussetzung für seine Möglichkeit war nach Hilberg die Außerkraftsetzung der Menschen- und Bürgerrechte zunächst in den Köpfen und dann in den Institutionen.

Die marxistische Literatur dagegen, die wir in unseren Anfängen zur Beschreibung der Verhältnisse in der Bundesrepublik und zur Darstellung der Geschichte der Gewerkschaften verwendeten (16), ist bis heute nicht bereit, diesen "Zivilisationsbruch" anzuerkennen und seine Nichtbearbeitung zum Thema der Darstellung der Bundesrepublik und der DDR zu machen. Wir kennen überhaupt nur ganz wenige Marxisten, die sich an der Beschreibung und Analyse des Nationalsozialismus versucht haben. In der Mehrheit der Fälle haben sie sich an der Definition des Faschismus-Begriffs aufgehalten. Ihr Blick richtete sich den philosophischen Grundaussagen des Materialismus entsprechend auf die Organisation der Ökonomie und die Herrschaft der Klassen. Das Hauptübel der Weltgeschichte wird im westlichen Kapitalismus verortet, der auch für Nationalsozialismus und Vernichtung der europäischen Juden verantwortlich gemacht wird.

Wird dieses Schema der Analyse auf die Entwicklung des Nationalsozialismus und die beiden - dem "Dritten Reich" folgenden - deutschen Staaten übertragen, hat dies verheerende Folgen. Der Wiederaufbau der Gewerkschaften und der Parteien der Arbeiterbewegung (mit Ausnahme der Genossenschaften und des vielfältigen sozialen Vereinswesens) nach 1945 unter denselben Bannern und Traditionen, unter denen sie 1933 (mit Ausnahmen) kampflos vor dem Nationalsozialismus kapituliert hatten, wird in dieser Literatur als Problem gar nicht angesehen. (17) Opfer - qua Definition - des Nationalsozialismus bleibt in ihrem Denkschema die deutsche Arbeiterklasse. Auch dann, wenn dieser historisch konkrete "Gesamtarbeiter" (in seiner Mehrheit) ohne Murren in feldgrauen Uniformen ganz Europa zu unterwerfen trachtete, die Deportationszüge lenkte, als Vorarbeiter die Zwangsarbeiter aus anderen Ländern kujonierte und als Schreibtischtäter z.B. die Fahrpläne der Sonderzüge nach Auschwitz zusammenstellte. Nur eine verschwindende Minderheit machte mit den Zwangsarbeitern gemeinsame Sache, half Verfolgten mit Verstecken oder plante gar bewaffneten Widerstand o.a.

Eine geschichtsblinde Kapitalismuskritik wird angesichts solcher historischen Verhältnisse zur Denkschablone und blockiert auf Deutschland angewendet die selbstkritische Diskussion in den Gewerkschaften und den Parteien der ehemaligen Arbeiterbewegung. Die Mehrheit der in Deutschland dem Kapital unterworfenen Lohnarbeiter kann aus der Verantwortung für den rassistischen Vernichtungskrieg und die Vernichtung der europäischen Juden nicht ausgenommen werden. Die einzelnen Mörder und Schreibtischtäter aus der Arbeiterklasse haben ebensolche Schuld auf sich geladen, wie dies Mörder und Schreibtischtäter aus anderen Klassen getan haben.

Die Linke in Deutschland im weitesten Sinne, von den Gewerkschaften angefangen über die Sozialdemokratie und die Kommunisten bis zu den Sektierern in den verschiedensten Zirkeln möchte dies bis heute nicht wahrnehmen. Die 1945 in Deutschland wieder gegründeten Organisationen der Arbeiterbewegung aus der Weimarer Republik schlugen sich als Organisationen unmittelbar auf die Seite der Opfer des Nationalsozialismus, sie beziehen bis heute einen nicht unwesentlichen moralischen Kredit aus dieser Tatsache. Die DDR bezog als Staat über diesen Mechanismus ihre Selbstlegitimation. Für eine kleine Zahl der Funktionäre der Organisationen der ehemaligen Arbeiterbewegung, ihrer führenden Repräsentanten und einfachen Mitglieder hat diese Selbstdarstellung als "Opfer" immer gestimmt. Für die Mehrheit ihrer Funktionäre und Mitglieder stimmte sie nie. Für diese Mehrheit der Mitglieder und Funktionäre, die überhaupt erst nach dem Nationalsozialismus das erste Mal mit sozialistischem oder demokratischem Gedankengut in Berührung kamen, stellte sich aber die "Opfergeschichte" der Organisation und einiger ihrer Repräsentanten als hervorragendes Instrument der auch individuellen Schuldabwehr heraus. Alle Organisationen der ehemaligen Arbeiterbewegung in Deutschland haben sich nach 1945 in dieser Weise ihr eigenes entlastendes Geschichtsbild geschaffen. Viele ihrer Mitglieder haben sich per Zugehörigkeit aus ihrer individuellen Geschichte gestohlen oder ihr Engagement in den Organisationen der Arbeiterbewegung als "tätige Reue" verstanden, die sie der öffentlichen Darstellung und Anerkennung ihrer Verbrechen bis 1945 entheben würde. (18)

Diese Fakten zur Kenntnis genommen verwundert es nicht mehr, Seminarteilnehmer anzutreffen, die sich eben das leisten, was sich die Organisationen der ehemaligen Arbeiterbewegung seit 1945 leisten: die Auseinandersetzung um den Nationalsozialismus wird durch das Bekenntnis zur Tradition ersetzt. Dieses Bekenntnis zur Tradition ermöglichte nach 1945 vielen Tätern ihre Verwandlung in selbst erfundene Opfer. Heule wie damals blockiert dies in Deutschland die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seine Anerkennung als unsere Geschichte in unserer Verantwortung und Haftung. Diese Verantwortung und Haftung haben die Organisationen der ehemaligen Arbeiterbewegung und der Linken 1945 abgelehnt. Sie sahen damals und oft genug heute keinen Anlass dazu. Sie tragen damit Mitverantwortung für die hier beschriebenen Formen der Geschichtsausblendung. Über mögliche Konsequenzen sollte man sich nicht täuschen.

Das Werk von Hilberg konfrontiert den Leser im Gegensatz zu der erwähnten marxistischen Literatur mit der Tatsache, dass in Deutschland nach 1945 die (in beiden Teilen) von außen erzwungene Befreiung vom Nationalsozialismus unvollständig blieb. Bis heute. Ohne die Anerkennung der Verbrechen durch die Täter und ihre Kinder und Kindeskinder aber ist eine Wiederholung immerzu vorstellbar. Ohne dass die deutsche Gesellschaft, die lebenden Generationen den "Zivilisationsbruch" in ihrem vollen Umfang anerkennen, die volle politische Verantwortung und Haftung dafür übernehmen, lauert die Wiederholung als latente Gefahr in unserer politischen Kultur und in unseren Institutionen. Die erzwungene Wiederherstellung der Geltung von Bürger- und Menschenrechten in Deutschland bleibt unvollständig ohne ihre Akzeptanz in der Gesellschaft.

(1) An dieser Stelle danken die Autoren dem langjährigen Mitarbeiter des BBZ der ÖTV Jens Mahler, dessen kritischer Begleitung ihrer Geschichtsseminare sie viele wichtige Anregungen verdanken.

(2) Man kann dies natürlich auch von seiner freundlichen Seite aus schildern. Die meisten mühten sich aufrichtig, diejenigen, die von ihren Vorfahren gehasst und verfolgt wurden, zu lieben, gerade weil sie von ihren Vorfahren gehasst wurden. Diese Wertung wiederum finden wir zu halbherzig. Denn woher kommt die fast ausschließliche Konzentration der Zuwendung auf die verfolgten Kommunisten? Im Kleinen reproduzierte sich hier ein Prozess, den Erich Loest auch für die Gründungsphase der ehemaligen DDR beschreibt. Das Heer der "Mitläufer", der kleinen und großen Mörder entschuldete sich selbst über das Bekenntnis zum Sozialismus. (Siehe: E. Loest, Ein Riss durch die Erde, Frankfurt am Main 1981.)

(3) Die beste Beschreibung fanden wir bei Hannah Arendt, Besuch in Deutschland (1950) in: Hannah Arendt, Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986.

(4) Den Begriff entlehnen wir hier der Schilderung des "Historikerstreits" von dem englischen Historiker Richard J. Evans, "Im Schatten Hitlers", Frankfurt am Main 1991.

(5) Die Gewerkschaften gelten in dieser Hinsicht als öffentlicher Verband. Über Inhalt und Verwendung des Begriffs siehe: Theo Pirker, Die Gewerkschaft als politische Organisation, Gewerkschaftliche Monatshefte 2/1952.

(6) S. Evans, S.24/25.

(7) Für uns waren es vor allem Bücher und Aufsätze von Bernd Rabehl, Manfred Scharrer und Theo Pirker.

(8) Man schlage z.B. noch einmal die bekannten Werke zur Geschichte der deutschen Gewerkschaften aus beiden deutschen Staaten nach und blättere zum 1. Mai 1933. Die ausführliche Würdigung, die das Ereignis bei Hans-Gerd Schumann, Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung, Hannover 1958, gefunden hat, bleibt bis heute die Ausnahme. Eine Darstellung der deutschen Arbeiterklasse als Wehrmachtsangehörige, Lokomotivführer, Vorarbeitern von Zwangsarbeitem etc. steht bis heute aus.

(9) Für uns war vor allem die Freundschaft von Jaqueline Becker entscheidend. Jaqueline arbeitete lange Jahre im Hausteam der DGB-Bundesjugendschule Oberursel. Sie hat uns in vielen Gesprächen mit der Frage nach unserer Analyse-Perspektive konfrontiert. Ihren Impulsen, ihren Hinweisen auf die Artikel von Dan Diner und Micha Brumlik im "Historikerstreit" insbesondere verdanken wir es, dass wir zwischen Täter- und Opferperspektive überhaupt unterscheiden lernten. Jaqueline Becker starb am 8.12.1988. Weiterhin ist hier zu erwähnen Nikolaus Simon, ehemals Schulleiter der DGB-Bundesjugendschule Oberursel, heute Leiter der Abteilung Grundsatzfragen beim ÖTV-Hauptvorstand, der mit seiner frühzeitigen und klaren Kritik an unserer Faszination an den Analysen von Theo Pirker und seinen Hinweisen auf die Probleme der deutschen Linken mit dem Antisemitismus unseren kritischen Blick wesentlich schärfte. Ohne dass uns aber Theo Pirker seine Geschichte als zunächst begeisterter Fallschirmjäger und späterer Soldat an der Ostfront auch in der so genannten "Banden- und Partisanenbekämpfung" und späterer linksradikaler Gewerkschaftskritiker wohl relativ offen erzählt hätte, wären wir dumm wie Bohnenstroh geblieben. Er konfrontierte uns im Gegensatz zu unseren Eltern mit einer weitgehend ungeschminkten Lebensgeschichte. (Siehe: M. Jander, Theo Pirker über Pirker. Ein Gespräch, Marburg 1988). Dies war nötig.

(10) "Zivilisationsbruch" nennt Dan Diner denn auch den Nationalsozialismus konsequent. Dan Diner, Aporie der Vernunft. Horkheimers Überlegungen zu Antisemitismus und Massenvernichtung, in: Dan Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, S. 30ff.

(11) In Kreisen von Gewerkschaftern wird gerne über das Buch von Ralph Giordano "Die zweite Schuld" gelästert. Es sei zu "journalistisch", Giordano argumentiere zu "moralisch". Er verbaue mit dieser "moralischen" Argumentation Lernprozesse. Er konfrontiere Menschen zu stark mit dem Begriff der "Schuld". Die Argumente fallen unserer Meinung nach auf diejenigen zurück, die sie verwenden. In ihrem Bemühen um "Wissenschaftlichkeit", um Vermeidung auch moralischer und emotionaler Begriffe, ersparen sie der jetzt heranwachsenden nächsten Generation von Gewerkschaftern Konfrontation mit Wahrheit.

(12) Ralph Giordano hat die politischen Folgen dieser Flucht zutreffend als den "Verlust humaner Orientierung in der Politik" bezeichnet.

(13) Dies haben wir von Dan Diner, Perspektivenwahl und Geschichtserfahrung, in: W. Fehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1990.

(14) Raul Hilberg hat seine Darstellung jedoch aus einem anderen Motiv heraus geschrieben. Anders als über die Beschreibung der Täter lässt sich seiner Meinung nach die Geschichte der Opfer nicht rekonstruieren. Siehe Alfons Söllners Interview mit Hilberg, in: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, S. 175ff.

(15) Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1990, Bd. 3, S.1115.

(16) Wir bitten, die Verallgemeinerung zu verzeihen. Wir halten sie trotzdem aufrecht mit einer Ausnahme: Franz Leopold Neumann. Wir kennen sonst keinen marxistischen Analytiker, der die Frage der Folgen des NS für die beiden Nachfolgestaaten ernsthaft bearbeitet hat.

(17) Wir verwendeten hier insbesondere E. Schmidt, Die verhinderte Neuordnung, Frankfurt am Main 1970; U. Schmidt/T. Fichter, Der erzwungene Kapitalismus, Berlin 1971; Theo Pirker, Verordnete Demokratie, (München 1956) Berlin 1970.

(18) Deswegen können wir den Film "Wir Kellerkinder" von Wolfgang Neuß so gut leiden. Nirgendwo wird besser beschrieben, welch wundersames Durcheinander sich in vielen deutschen Köpfen nach 1945 befand. Wir haben den Film in fast allen unseren Seminaren zur Geschichte nach 1945 mit großem Erfolg eingesetzt. In Anlehnung an diesen Film hätten wir unseren Text gerne "Wir Killerkinder" genannt. Die aufmerksame Redaktion brachte uns in letzter Minute davon ab. Killer sind Killer, Mörder sind Mörder. Eine historische Darstellung am Beispiel der SPD findet sich bei Everhard Holtmann, Die neuen Lassalleaner, SPD und HJ-Generation nach 1945 in: Martin Broszat u. a.(Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, München 1988. Siehe auch den aktuellen Rücktritt des brandenburgischen sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Gustav Just. Im Interview von B. Markmeyer in der taz (11.3.92 S.4) sagt Just - der zugegeben hat, im II. Weltkrieg an der Erschießung von 6 Juden beteiligt gewesen zu sein - auf die Frage: "Sie sind noch 1943 zur NS-Kriegsschule gegangen und gleich 1946 in die SED eingetreten. Wie hat sich dieser schnelle Wandel vollzogen?" Just: "Das, was die demagogischen Seiten des Nationalsozialismus waren, an die glaubten ja viele. Was an schrecklichen Dingen passiert ist, da war ja automatisch das Bedürfnis: nun müssen wir genau das Gegenteil machen. Und das Gegenteil waren die Kommunisten."