fallschirmjäger und nachkriegspartisan

ein nachruf auf theo pirker

Im September 1995 starb nach Monaten quälender Krankheit der "Soziologe, Journalist, Gewerkschafter und Katholik" (1)(FAZ) Theo Pirker. Von 1945 bis zu seinem Lebensende war er eine Herausforderung für das politische Establishment der bundesdeutschen Gewerkschaf-ten und ein Querdenker der bundesrepublikanischen Linken. Mit ihm haben die deutschen Gewerkschaften den wohl einzigen authentischen Intellektuellen verloren, den sie seit dem Ende des Krieges hervorbrachten. Dass sie ihn schon nach kurzer Zeit nicht mehr als einen Mitstreiter akzeptieren wollten, tut dabei nichts zur Sache.

Dass Pirkers politisches Engagement, seine journalistischen und wissenschaftlichen Arbeiten den bundesdeutschen Gewerkschaften und der politischen Linken nach 1945 zum Ärgernis wurden, hat die verschiedensten Gründe und Anlässe. Ohne den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg jedoch, an dem der 1922 geborene Pirker als Soldat teilnahm und aus dem er schwer verwundet mit einer Beinprothese zurückkehrte, lassen sich diese Provokationen nicht deuten. Pirker thematisierte und verbarg, reflektierte und versteckte den Nationalsozialismus. Die eigentümliche Form in der er dies tat, sollte Widerspruch hervorrufen.

Fallschirmjäger

Weshalb Gewalt ihn faszinierte, konnte Pirker nicht erklären. (2) Die Sache selbst verbarg er jedoch nicht. In der Rückschau hatte er sogar den Eindruck, dass er sich seit frühester Jugend "Politik ohne Gewalt" (3) überhaupt nicht habe vorstellen können. Die autobiographischen Aussagen zur Geschichte eines Jungen aus dem "Arbeiteradel" (4), Sohn einer kommunistischen Mutter und eines sozialdemokratischen Vaters, in deren Gegenwart über den Krieg nicht gesprochen werden durfte und der schon aus Trotz begeistert den Heldengeschichten ei-nes Onkels aus dem l. Weltkrieg lauschte, klingen zwar einleuchtend, vermögen aber nicht ganz zu überzeugen. Unerklärt bleibt der Schritt von der Begeisterung zur Tat.

Theo Pirker, der zunächst eine Ausbildung in der Stadtverwaltung Münchens absolvierte, war fasziniert vom technischen Krieg und wollte Pilot werden. Ausgebildet wurde er als Fallschirmjäger. Wie er genau Soldat wurde, wie man ihn ausbildete, welche Ränge er bekleidete, wo er genau in diesem Krieg war und was er dort angerichtet hat, öffentlich hat er das nie erzählt. Aber auch ohne die genaue Kenntnis dieser Ereignisse war für jeden - der ihn näher kennen lernte - sichtbar, dass Mut, Disziplin, Todesverachtung und die Unterordnung des Individuums unter die Sache jene soldatischen Tugenden mit all ihrer Ambivalenz waren, die Pirker prägten. Erst die Kenntnis militärischer Zusammenhänge und Funktionsprinzipien machte das Gegenüber zum respektierten Gesprächspartner. Als "Fallschirmjäger und Kriegsgegner mit gleicher Passion, wenngleich zu verschiedenen Zeiten" (5) beschreibt ihn deshalb auch sein Freund der Soziologe Burkart Lutz. Unvergessen bleibt vielen Studenten der Freien Universität Berlin seine in der Regel überfallartig gestellte Frage: "Haben Sie gedient?"

Nachkriegspartisan

Seine militärische Ausbildung und die Erfahrungen als Fallschirmjäger hatten ihn spezifische Formen militärischen Handelns gelehrt. Planfixierung und Zentralismus der Wehrmacht hielt er für die Ursache ihres militärischen Scheiterns. (6) Vor allem aus der Besetzung Kretas im Jahr 1941, die er nur um ein Haar überlebte, zog er die Lehre, kleine, autonom handelnde und sich selbst versorgende, mobile Militäreinheiten seien unübersichtlichen großen Zusammenhängen vorzuziehen. (7)

Diese militärischen Erfahrungen wurden auch Bestandteil von Pirkers politischem Denken und Handeln nach dem Krieg. So wurde er in den Gewerkschaften nicht zu Unrecht als links-katholischer "Partisan" angesehen. (8) Er selbst schilderte, dass er in den 50er Jahren seine militärischen Kenntnisse der "Partisanenbekämpfung" nutzte und Partisanen des algerischen Befreiungskampfes (9) schulte: "Es war für mich selbstverständlich, dass in der Frage falscher militärischer Ausrichtung oder, falscher militärischer Strategie im Algerienkrieg wir, nämlich eine Generation von jungen Deutschen, die den Hitler-Krieg mit genossen haben, jetzt sozusagen etwas gutmachen können und zwar durch militärische Beratung." (10) Ob er im 2. Weltkrieg selbst in der Partisanenbekämpfung eingesetzt war, ließ er dabei offen. Auch in den 70er und 80er Jahren, als Professor der Soziologie und Institutschef am Zentralinstitut für so-zialwissenschaftliche Forschung pflegte er nur halb im Scherz zu sagen, er führe das Institut nach den Grundsätzen, die Mao Tse Tung für den Partisanenkrieg aufgestellt habe.

Diese Geschichten, deren Sich seine Freunde und Feinde viele erzählen und die er selbst mit viel Freude verbreitete sind nur Spuren einer von ihm selbst nicht aufgeklärten Geschichte. Was den Elitesoldaten des Blitzkrieges Theo Pirker im Kern ausmachte, wird noch solange im Dunkel bleiben, bis seine Wehrmachtsakte eingesehen werden kann. Erst dann wird man auch sagen können, was Pirker in seinem Leben nach dem Krieg so heftig wieder gut zu machen trachtete.

Nationale Opposition

Pirkers politische Nachkriegsideen sind unmittelbares Produkt des Kriegsendes und seiner Reflexion darüber. Er selbst datiert ihren Entstehungszusammenhang auf die 40er Jahre. 1943 kehrte er schwer verwundet aus dem Krieg zurück, machte Abitur und begann zu studieren. Seine politischen Überlegungen und die seiner ebenfalls vom Krieg lädierten Mitstudenten kreisten um die Frage, was nach dem Ende des Deutschen Reiches - dafür glaubte Pirker in den Krieg gezogen zu sein, er hielt es für unwiderruflich verloren - mit der Nation geschehen solle. (11) Seine politischen Optionen lassen sich als der Versuch der Formierung einer "nationalen Opposition" (12) gegen die Teilung Deutschlands und gegen die Orientierung an einem westlichen, demokratischen Kapitalismus beschreiben.

Seine politische Grundkonzeption hatte Pirker zunächst mit Freunden in der Zeitschrift "Ende und Anfang" ausgearbeitet. Ein Bündnis von Christen, Sozialdemoraten, Kommunisten, Ge-werkschaftern und Parteilosen sollte nach der Zerstörung des Reiches um die "Führung der Nation"(13) ringen. Die Bourgeoisie hatte die Nation verraten, das Proletariat sollte sie nun retten. Als sich mit Pirkers beginnendem Aufstieg beim DGB die Chance ergab, die Konzeption wirkungsvoller einzusetzen, übertrug er sie auf die Organisation.

Die Gewerkschaften sollten sich als "politischer Verband" (14) konstituieren. Die Organisation auf diesen Weg zu bringen, sah Pirker als die Aufgabe der von Nationalsozialismus und Krieg geprägten jungen Generation. (15) Ein Höhepunkt in Pirkers Engagement für dieses Konzept bildet die Auseinandersetzung um die Remilitarisierung der Bundesrepublik. (16) Dabei hingen seine agitatorischen Fähigkeiten und seine Beliebtheit bei vielen Jugendlichen und Gewerkschaftsmitgliedern unmittelbar mit seinen "Taten und Untaten" im Krieg zusam-men. Wie er selbstbewusst mitteilte, ließen seine Auftritte die Zuschauer nicht selten "erschauern". Er hatte "Wirkung". War seinen Zuhörern die Sicht auf seine Beinprothese einmal versperrt, versäumte er es hie seine Verwundung zumindest in einem Nebensatz zu erwähnen. Daß er Soldat gewesen war, versteckte er nicht, er hob es hervor.

Diese politischen Orientierungen, aber natürlich auch seine Biografie und seine Wirkung mussten Pirker das Misstrauen und den Widerstand all derjenigen eintragen, die den Institutionen und politischen Verbänden nach 1945 wesentlich eine Erziehungsaufgabe im Sinne einer parlamentarischen Demokratie und einer Einordnung ins westliche Bündnis zuwiesen, die der politischen Demokratie in den westlichen Besatzungszonen den Vorrang vor nationaler Einheit und Sozialismus gaben. In Pirker sahen sie nicht zu Unrecht einen gebildeten und begabten Agitator für einen nationalen Sozialismus nach dem Nationalsozialismus. Pirker und A-gartz, die Köpfe der innergewerkschaftlichen Opposition gegen die Wiederbewaffnung wurden Mitte der 50er Jahre aus dem DGB geworfen.

Soziologie als Politik

Des innergewerkschaftlichen Einflusses weitgehend beraubt, orientierte sich Pirker hinfort auf das Projekt der Gründung einer linken Minderheitspartei. (17) Politik als Beruf aber stand nicht mehr im Vordergrund dieses neuen Lebensabschnitts. Ohne festes Einkommen entwickelte er eine regelrechte Schreibwut. Das Ehepaar Anneliese und Theo Pirker produzierte Tag für Tag "mindestens vier Seiten" und finanzierte seinen Lebensunterhalt durch journalis-tische Tätigkeit und industriesoziologische Auftragsforschung. Zusätzlich bereiste Pirker mit journalistischen Aufträgen die halbe Welt. Den größten Umfang nahmen dabei Reportagen, Kommentare und Features für den Bayrischen Rundfunk ein.

Wohl aber trieb Pirker Politik mit seiner Soziologie. (18) Mit seinen Arbeiten zu Management und Mitbestimmung (19) und vor allem zur Bürotechnik (20) entwickelt er sich zu einem der Pioniere der Industriesoziologie in Deutschland. (21) Aus seinen Weltreisen entstand ein eigener Ansatz der Entwicklungssoziologie. (22) Mit ihm brachte es Pirker bis zum wissenschaftlichen Mitarbeiter im internationalen Arbeitsamt (ILO) in Genf. (23) Eine Position die, wie er später immer wider betonte, viel besser bezahlt war als die Tätigkeit eines Professors für Soziologie.

Ein nach eigenen Aussägen "finanzieller Mißerfolg" zur Zeit ihrer Erst- wie Zweitveröffentlichung waren Pirkers Arbeiten zur Konstitution parlamentarischer Demokratie in der Bundesrepublik (24), zur Sozialdemokratie nach dem Nationalsozialismus (25) und zum DGB (26). Diese Projekte hatte er zur nachträglichen Bearbeitung seiner politischen Arbeit in den Gewerkschaften in Angriff genommen.

Viele politische Freunde kostete Pirker darüber hinaus sein Bruch mit kommunistischer Politik. Die Rolle der DDR bei der Entlassung von Agartz und Pirker (27) und die Ereignisse in Osteuropa seit 1956 hatten Pirkers Verhältnis zum Kommunismus und 2ur DDR zunächst nur verändert. (28) Eine Teilnahme an kommunistischen Kampagnen, wie etwa noch in den 40er Jahren an der Volkskongressbewegung (29), kam nun nicht mehr in Frage. Pirker galt jedoch noch als "Linker". Mit der Veröffentlichung seiner - als Auftragsarbeiten für das Institut für Zeitgeschichte entstandenen - Bücher zu den Moskauer Schauprozessen (30), der Politik der Komintern 1920-40 (31) und dem leninistisch-trotzkistischen Konzept der Weltrevolution (32) hatte er dann jedoch Themen angeschnitten, die viele Linke bis heute noch nicht vertragen können. Damals gingen viele seiner wenigen noch verbliebenen linken Freunde auf Distanz. Nun wurde er als Antikommunist wahrgenommen. (33) Nicht zuletzt die damit einhergehende Isolierung Pirkers, das Ausbleiben lukrativer Aufträge war es, die den Anstoß gab das Leben eines freischaffenden Autors aufzugeben und nunmehr eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

Professor

Bei der Abfassung seiner Arbeiten zur politischen Soziologie sei ihm - so schrieb Pirker in den 70er Jahren bei ihrer Zweitauflage - bewusst geworden, "dass die politischen Hoffnungen der Jahre 1943 -1947" (34), die bis in , die 50er Jahre sein Denken und Handeln bestimmten, "unrealistisch" gewesen wären. Das Ziel eines nicht gespaltenen sozialistischen Deutschlands wäre im Rahmen der internationalen Machtkonstellationen nicht realisierbar gewesen.

Dieser Kern seiner Analyse wurde in den 60er Jahren kaum wahrgenommen. So sind diese Bücher in der Studentenbewegung der späten 60er Jahre und in den Gewerkschaften inoffiziell auch durchweg als Belege eben jener Hoffnung auf einen Weg zwischen den Blöcken, eines dritten Weges gelesen worden. Zunächst erschienen sie nur in den Fußnoten von Diplom- und Doktorarbeiten, später trat man hier und dort auch in eine Auseinandersetzung mit dem Autor.

Pirker selbst hielt von der Studentenbewegung wenig. (35) "Das war doch eine Micky Mouse Revolution" provozierte er mit deutlichem Verweis auf die bürgerliche Herkunft vieler ihrer Repräsentanten. Ihre "Revolutionsromantik" und ihre militärische Unkenntnis stießen Pirker ab. (36) Umgekehrt stieß vor allem seine Stalinismuskritik auf Ablehnung. Seine Arbeiten zu den Moskauer Schauprozessen und zur Kritik sowjetischer Politik wurden in den 70er Jahren nicht wieder aufgelegt.

So heftig waren die Konflikte, dass der mittlerweile promovierte und habilitierte Pirker 1972 erst auf außerordentliche Intervention von Margherita von Brentano, damals Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin, am Westberliner Institut für Soziologie, damals eine Hochburg des "Projekt Klassenanalyse", einen Lehrstuhl für "Methodenlehre" erhielt. (37) Die dortigen promovierten und habilitierten Vertreter der Studentenbewegung hielten Pirker für einen Re-aktionär.

Mit den marxistischen Illusionen eben jener und anderer Vertreter der Studentenbewegung, die von einer Rekonstruktion der Klassenkämpfe träumten und sich damals anschickten über die Schulung von Vertrauensleuten und Bildungsfunktionären die Gewerkschaften umzukrempeln, hatte Pirker nichts gemein. Sie umgekehrt suchten seine Nähe nicht. Es waren lediglich die Repräsentanten einer stalinismuskritischen Linken im Umkreis der Berliner Zei-tung "Langer Marsch", die Zugang zu ihm fanden und, deren Arbeiten er nicht selten im heftigen Streit begleitete.

Vermächtnis

Ein Werk im Sinne eines vollständigen, um eine Frage oder einen Gegenstand kreisenden Kompendiums hat Pirker nicht hinterlassen. Für ein solches Werk waren seine Interessen, Fähigkeiten und sein Erfahrungshunger zu vielfältig. Die Reduktion auf nur einen Gegenstand oder eine Forschungsrichtung entsprach nicht der Lebensphilosophie eines Partisans. Ein "Querdenker von stupender Belesenheit und nicht immer unbegrenzter intellektueller Disziplin" (38) sei er gewesen, schreibt wohl deshalb etwas naserümpfend der schon zitierte Burkart Lutz. Eher bewundernd resümierte dagegen der Soziologe Lepsius an Pirkers Grab denselben Zusammenhang: Theo Pirker habe viele Leben gelebt und sei doch mit sich selbst identisch gewesen. (39)

Der Zusammenhang des scheinbar Zusammenhanglosen ist in der Tat ein Schlüssel zu Pirkers schriftlicher Hinterlassenschaft. Denn durch seine verschiedenen Arbeiten und Beiträge hindurch lässt sich ein Reflexionsprozess nachzeichnen, der von einem ständigen Überdenken der ursprünglichen Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der Arbeiterbewegung nach dem Ende des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Beständig historisiert und soziologisiert Pirker seine eigenen Erfahrungen mit sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher, kommunisti-scher und christlicher Politik.

Begrifflich erkennt man - um nur ein Feld zu nennen - vom Entwurf des Konzepts der Gewerkschaften als politischem Verband (40), über das soziologische Verständnis der Gewerkschaften als Versicherungsorganisation(41) bis hin zu den Thesen vom Ende der Arbeiterbewegung (42) und der Deutung der Gewerkschaften als intermediäre Institution in der pluralistischen Gesellschaft (43) einen weiten Bogen. Und doch behält Pirker den Ausgangspunkt stets im Blick. Eine Wiederbelebung der Arbeiterbewegung nach dem Krieg, so Pirker in den 80er Jahren, sei wesentlich daran gescheitert, dass Sozialdemokratie und Gewerkschaften die Rekonstruktion der Arbeiterkultur vergessen hätten. Das Versäumnis der Gewerkschaften sich in der Auseinandersetzung um Mitbestimmung, Betriebsverfassung und Wie-derbewaffnung zum politischen Verband zu konstituieren, bleibt dabei Kern der Interpretation. Dass eine solche Rekonstruktion möglich gewesen wäre, daran hielt er fest.

Beichtgeheimnis

Trotz der Vielfalt der von Pirker analysierten zeitgeschichtlichen Themen und ihres erkennbaren inneren Zusammenhangs, dem Lernprozess des Partisans Theo Pirker, bleibt eine wesentliche Frage unbearbeitet. Beinahe wortlos bleibt der Soziologe und Journalist gegenüber seiner eigenen Erfahrung als Soldat. Dass der XI. Weltkrieg ein Vernichtungskrieg war und er selbst deshalb an Verbrechen beteiligt, dessen war er sich in der Rückschau bewusst. (44) Dass die Frage ihn seit seiner schweren Verwundung 1943 bewegte, ist an den verschiedenen Beiträgen in der Zeitschrift "Ende und Anfang" belegbar. (45) Eine Auseinandersetzung zu Fragen von persönlicher Schuld, Haftung und Verantwortung findet man jedoch nur am Rande.

Diese Wortlosigkeit gehörte zu einem Programm, das Pirker nicht verheimlichte. Vom öffentlichen Sprechen über die eigene Beteiligung am Krieg hielt er nichts. Dies schien ihm eher eine Angelegenheit für die Beichte: "Ich war gegen die Kollektivschuld. Wo alle sich schuldig bekennen, werden Differenzierungen unmöglich, dann sind wir eben alle Sünder: eine Kollektivbeichte im falschen Sinne. Ich vertrat die Auffassung, dass jeder Einzelne sich selber befragen und als Individuum alles tun müsse, damit das, was er mitverschuldet hat, wieder gut gemacht werden könne, so wie es das Beichtsakrament fordert. Wir wollten unter keinen Umständen die Flucht vor der nationalsozialistischen Vergangenheit." (46)

Entmystifikation und Mythos

Abgesehen von diesem individuellen Umgang mit seiner Geschichte als Fallschirmjäger schienen Pirker Nationalsozialismus und II. Weltkrieg aber auch keine Ereignisse zu sein, die in der Soziologie als relevante Probleme der Nachkriegsdemokratie einen wesentlichen Platz zu beanspruchen hätten. Entnazifizierung, moralische Umkehr, öffentliche Aufarbeitung, Wiedergutmachung für die überlebenden Opfer, juristische Abarbeitung, Übernahme der poli-tischen Haftung etc. waren keine Themen, die seine Aufmerksamkeit erheischt hätten. (47)

Pirkers Themen waren die Unterordnung von Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Kom-munisten unter die Politik von USA und UDSSR, die Spaltung Deutschlands und die Einpas-sung der verschiedenen Teile der ehemaligen Arbeiterbewegung in die "verordnete Demokratie" hüben und - dies nur am Rande - den Stalinismus drüben.

Die kampflose Kapitulation der Gewerkschaften und ihr moralischer Selbstmord vor dem Na-tionalsozialismus, der 1. Mai 1933, die Beteiligung der Arbeiter, Angestellten und Beamten am Vernichtungskrieg, an der Auspowerung der Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern und an der Vernichtung der europäischen Juden, all dies schienen Pirker für die Analyse der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung in Deutschland nach 1945 keine relevanten Gesichtspunkte zu sein. Er ging damit zwar nicht explizit aber dennoch implizit davon aus, dass die deutsche Arbeiterbewegung eine politisch moralische Kontinuität aufzuweisen hatte, die es erlaubte ihre Interessen, Ziele und Organisationen nach 1945 als bessere Alternative zur verordneten Demokratie darzustellen. Dass Demokratie von außen verordnet werden musste, weil der deutsche Widerstand schwach, bedrängt und unentschlossen den Nationalsozialismus nicht von innen niedergerungen hatte, Nation und Freiheit wie so oft in Deutschland nicht zu-sammenfanden und die deutsche Arbeiterbewegung nur eine zu vernachlässigende Rolle für seine Beendigung spielte, dies war eine Perspektive die Pirker ablehnte.

So ließ der einzige authentische Intellektuelle, den die deutschen Gewerkschaften nach 1945 hervorgebracht und sofort wieder ausgespuckt hatten, bei allen Verdiensten um die kritische und entmystifizierende Analyse der Gewerkschaften und zur Soziologie überhaupt, einen we-sentlichen Mythos der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Linken unangetastet. Den Mythos, die deutsche Arbeiterbewegung hätte nach 1945 ein anderes und besseres Deutschland, eine eigenständige demokratische Alternative zur Spaltung des Landes und zur verordneten Demokratie hervorbringen können.

(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.9.95

(2) Siehe: Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker, Marburg 1988, S. 25ff

(3) Ebenda, S. 25

(4) Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.9.95

(5) Lutz, Burkart, Strategischer Vordenker Theo Pirker (1922 - 1995) in: Gewerkschaftliche Monatshefte 11/95, S. 715

(6) Siehe hierzu das Vorwort in: Pirker, Theo, Utopie und Mythos der Weltrevolution, München 1964

(7) Siehe hierzu: Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker, Marburg 1988, S. 99ff

(8) Siehe das Interview mit Pirker in: Schroeder, Wolfgang, Gewerkschaftspolitik zwischen DGB, Katholizisnus und CDU, Köln 1990, S. 366ff

(9) Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker, Marburg 1988, S. 101

(10) Redebeitrag von Theo Pirker, in: Lönnendonker, Siegward (Hrsg.), Der SDS in der Nachkriegsgeschichte 1946 - 1969 - Linksintellektueller Aufbruch zwischen "Kulturrevolution" und "Kultureller Zerstörung", Symposium 25. - 27. Juni 1985 an der FU-Berlin, Manu-skript S. 122, erscheint im Frühjahr 1996.

(11) Siehe: Pirker, Theo, Das Endes des Reiches und der Nation und die Möglichkeiten eines neuen Anfangs, in: Brusis, Ilse (Hrsg.), Die Niederlage, die eine Befreiung war, Köln 1985

(12) "Nationale Opposition - Kampf FÜR den Frieden" in: Ende und Anfang,.3. Jahrgang, Nr. 14, Oktober 1948

(13) Siehe den Artikel mit dem gleichnamigen Titel in: Gewerkschaftliche Monatshefte 6/1951

(14) Pirker, Theo, Die Gewerkschaft als politische Organisation in: Gewerkschaftliche Mo-natshefte 2/1952

(15) Pirker, Theo, Die Jugend in der Struktur unserer Gesellschaft, in: DGB Bundesvorstand, Hauptabteilung Jugend (Hrsg.), Arbeitstagung der Gewerkschaftsjugend in Königswinter vom 25. - 30. November 1951, o.O., o.J., S. 7ff

(16) DGB-Kreisausschuß Hünchen (Hrsg.), Pirker, Theo, Warua sind wir gegen die Remilita-risierung?, Hünchen 1952

(17) Pirker arbeitete nit Abendroth und Öertzen zusamen. Siehe: Brügmann, Wolf Gunter, Eigensinn - ZUM Tod von Theo Pirker in: Frankfurter Rundschau, 5.9.95. Der Ankündigung des Verlages Olle und Wolter in Westberlin, ein Manuskript von Pirker zum Scheitern einer unabhängigen linken Minderheitspartei in den 50er Jahren zu veröffentlichen, ist nie ein Buch gefolgt.

(18) Siehe hierzu: Weinert, Rainer, Der Grenzgänger, in: ders. (Hrsg.)/ Theo Pirker, Soziologie als Politik, Berlin 1991

(19) Pirker, Theo u.a., Arbeiter, Management, Mitbestimmung, Düsseldorf 1955

(20) Pirker, Theo, Büro und Maschine, Basel 1962; ders./ Bürotechnik, Stuttgart 1963

(21) Siehe: Bernsdorf, W./ Knospe, H., Internationales Soziologenlexikon, Stuttgart 1984, Bd. 2, S. 667f

(22) Produkte sind: Pirker, Theo, Probleme der Industrialisierung Ost-Pakistans, in: Mitteilungen der List-Gesellschaft 3, Basel 1962; ders. Die Histadrut, Basel 1965; ders., Institutionalisienmg und Partizipation, Mannheim 1969

(23) Siehe: Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker, Marburg 1988, S. 117ff

(24) Pirker, Theo, Die verordnete Demokratie, München 1956, Berlin 1977

(25) Pirker, Theo, Die SPD nach Hitler, München 1965

(26) Pirker, Theo, Die blinde Macht, München 1960, Berlin 1979

(27) Siehe: Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker, Marburg 1988, S. 87ff

(28) Siehe hierzu den Artikel von Theo Pirker, Der Stalinismus und die Arbeiterbewegung in Westdeutschland in: Dutschke, Rudi/Wilke, Manfred (Hrsg.), Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, Reinbeck 1975

(29) Siehe hierzu den Beitrag von Theo Pirker, Gewerkschaften und Verfassung nach 1945, in: Haus der Gewerkschaftsjugend (Hrsg), Zwischen Kooperation und Konfrontation, Mar-burg 1980, S. 15ff

(30) Pirker, Theo, Die Moskauer Schauprozesse, München 1963

(31) Pirker, Theo, Komintern und Faschisuus 1920 - 1940, Stuttgart 1965

(32) Pirker, Theo, Utopie und Mythos der Weltrevolution, München 1964

(33) Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker, Marburg 1988, S. 108ff

(34) Pirker, Theo, Die SPD nach Hitler, Hünchen 1965, S. 13

(35) Siehe: Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker,, Marburg 1988, S. 125ff

(36) Siehe den Redebeitrag von Theo Pirker, in: Lönnendonker, Siegward (Hrsg.), Der SDS in der Nachkriegsgeschichte 1946 - 1969 - Linksintellektueller Aufbruch zwischen "Kulturrevo-lution" und "Kultureller Zerstörung", Symposium von 25. - 27. Juni 1985 an der FU-Berlin, Manuskript S. 122, erscheint im Frühjahr 1996

(37) Siehe: Rabehl, Bernd/ Wilke, Manfred, Ein Leben wider den faulen Kompromiß in: FU-Nachrichten, 10/95, S. 44f

(38) Lutz, Burkart, Strategischer Vordenker Theo Pirker (1922 - 1995) in: Gewerkschaftliche Monatshefte 11/95, S. 715

(39) Trauerfeier für Theo Pirker, Ostfriedhof Hünchen 6. September 1995, Rede von H. Rainer Lepsius, Manuskript

(40) Pirker, Theo, Die Gewerkschaft als politische Organisation in: Gewerkschaftliche Monatshefte 2/1952

(41) Pirker, Theo, Die Gewerkschaften als Versicherungsbetrieb in: Hörne, Alfred (Hrsg.), Zwischen Stillstand und Bewegung, Frankfurt 1965, S. 7ff

(42) Pirker, Theo, Vom "Ende der Arbeiterbewegung", zuerst veröffentlicht in: Ebbighausen, Rolf/ Tienann, Friedrich (Hrsg.), Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland, Opladen 1984, S. 39ff

(43) Pirker, Theo, Regulative Funktionen intermediärer Institutionen in: FU-Berlin, Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung (Hrsg.), Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Nr. 7, Berlin, 1988

(44) Siehe: Jander, Martin, Theo Pirker über Pirker - Ein Gespräch, Marburg 1988. S. 25ff

(45) Die Zeitschrift "Ende und Anfang" erschien von 1946 - 1949 in München, Theo Pirker, Siegfried Braun und Burkart Lutz gehörten zur Redaktion.

(46) Interview mit Theo Pirker, in: Schroeder, Wolfgang, Gewerkschaftspolitik zwischen DGB, Katholizismus und CDU, Köln 1990, S. 369

(47) Gemeint ist: Pirker, Theo, Die verordnete Demokratie, (geschrieben 1956), Berlin 1977